Das Einhorn

19. September 2022
  • Der Pfauen Pracht,
  • Blau, grün und gülden, blühte in Dämmerung
  • Tropischer Wipfelwirrnis, und graue Affen
  • Fletschten und zankten, hangelten, tummelten, balgten sich im Geschlinge.
  • Der große Tiger, geduckt, zuckte die Kralle, starrte, verhielt,
  • Als das stumme seltsame Wild durch seine indischen Wälder floh,
  • Westwärts zum Meere.

  • Das Einhorn.

  • Seine Hufe schlugen die Flut
  • Leicht, nur spielend. Wogen bäumten sich
  • Übermütig,
  • Und es lief mit der wichernd springenden, jagenden silbermähnigen Herde.
  • Über ihnen
  • Schrieb Flug schwarzer Störche eilige Rätselzeichen an den Himmel Arabiens,
  • Der mit sinkender Sonne eine Fruchtschale bot:
  • Gelbe Birnen, gerötete Apfel,
  • Pfirsich, Orange und prangende Trauben,
  • Scheiben reifer Melone.
  • Schwarze Felsen glommen im Untergange,
  • Amethystene Burgen,
  • Weiße glühten, verzauberte Schlösser aus Karneol und Topas.
  • Spät hingen Rosennebel über den taubenfarb dunkelnden Wassern der Bucht.

  • Das Einhorn.

  • Seine Hufe wirbelten Sand,
  • Der lautlos stäubte, Es sah
  • Einsame Städte, bleich, mit Kuppel und Minarett und den Steinen der Leichenfelder
  • Schweigend unter dem klingenden Monde.
  • Es sah
  • Trümmer, verlassene Stätten, nur von Geistern behaust, in funkelnder Finsternis
  • Unter kalten Gestirnen.
  • Einmal lockte der Wüstenkauz,
  • Und im Fernen heulten Schakale klagend;
  • Hyänen lachten.
  • Am Eingang des Zeltes unter der Dattelpalme
  • Hob das weiße syrische Dromedar träumend den kleinen Kopf, und seine Glocke tönte.

  • Vorüber das Einhorn, vorüber.

  • Denn seine leichten, flüchtigen Füße kamen weither aus dem Goldlande Ophir,
  • Und aus seinen Augen glitzerten Blicke der Schlangen, die des Beschwörers Flöte aus Körben tauchen, gaukeln und tanzen heißt,
  • Doch das steile Horn seiner Stirnmitte goß sanfteres Licht, milchig schimmerndes,
  • Uber die nackten Hände und weich umschleierten Brüste der Frau,
  • Die da stand
  • Zwischen Mannasträuchern

  • Ihr Gruß:
  • Demut
  • Und der stille Glanz tiefer, wartender Augen
  • Und ein Hauchen, leise quellendes Murmeln des Mundes, —
  • Brunnen in Nacht.
Gertrud Kolmar (1894-1943) war eine deutsche Schriftstellerin. Sie gilt als einer der bedeutendsten deutschsprachigen Dichterinnen des zwanzigsten Jahrhunderts.

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